Die "Projektion" scheinbar dreidimensionaler "Gegenstände" auf die zweidimensionale Ebene kann zu paradoxen Wahrnehmungen führen, wenn unser Gehirn widersprüchliche Einzelinformationen zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügen will.
Eine unfehlbare Instanz hat eine Person zur unerwarteten Hinrichtung verurteilt. Die verurteilte Person soll zwischen Montag und Freitag (den nächsten 5 Tagen) hingerichtet werden, ohne den Tag der Hinrichtung vorher zu kennen. - Gelingt es dem Gefangenen, den Hinrichtungstag vorauszusagen, ist er frei.
Der Gefangene überlegt sich: "Wenn ich am Freitag noch lebe, dann erwarte ich meine Hinrichtung am Freitag, also kann sie dann nicht stattfinden. Wenn ich aber am Donnerstag noch lebe, dann bin ich ebenfalls frei, denn da die Hinrichtung am Freitag nicht unerwartet stattfinden kann, würde ich sie am Donnerstag erwarten und sie kann damit donnerstags ebenfalls nicht stattfinden. Wenn ich am Mittwoch noch leben würde, erwartete ich die Hinrichtung für diesen Tag. Das gleiche gilt für Dienstag und Montag. Also bin ich frei."
Tatsächlich wird der Gefangene für ihn völlig unerwartet am Mittwoch hingerichtet.
Wie kommt es zu diesem paradoxen Verhalten? Wie läßt sich die Paradoxie auflösen?
Logisch äquivalent zum Gedankengang des Gefangenen wäre es, die Hinrichtung für den jeweils aktuellen Tag zu erwarten und dadurch eine unerwartete Hinrichtung nicht zuzulassen.
a) Wenn eine solche "Mehrfacherwartung" zulässig ist, dann ist der Gedankengang des Gefangenen zwar umständlich, aber schlüssig und könnte die Hinrichtung tatsächlich verhindern, vorausgesetzt er hält sich an die eigenen Annahmen, nämlich am Freitag die Hinrichtung für Freitag zu erwarten, am Donnerstag die Hinrichtung für Donnerstag, usw.
Es wäre also denkbar, daß der Gefangene aufgrund seines "Beweises" darauf verzichtet hat, seine Hinrichtung jederzeit zu erwarten und dadurch unerwartet hingerichtet werden konnte.
b) "Mehrfacherwartungen" sind unzulässig. Zu einem festgesetztem Zeitpunkt hat die Erwartung Entscheidungscharakter.
In diesem Fall kann man es sich nicht so einfach machen, die Hinrichtung jeweils für den aktuellen Tag zu erwarten. Potentiell ist es aber möglich, den richtigen Tag der Hinrichtung zu erraten und diesen zu erwarten, wenn der Tag der Hinrichtung unabhängig von der Erwartungshaltung des Gefangenen festgelegt wurde. Der Gedankengang des Gefangenen beweist genau dies.
Die Folgerung, am Freitag gäbe es keine Hinrichtung, wurde unter der Prämisse getroffen, die Erwartung sei ebenfalls auf den Freitag gefallen. Am Donnerstag wird jedoch eine ganz andere und unbewiesene Behauptung untergeschoben, nämlich: Die Freitagsfolgerung sei korrekt auch bei Erwartung der Hinrichtung für den Donnerstag. Da aber Mehrfacherwartungen unzulässig sind, ist die hinreichende Bedingung für die Freitagsfolgerung nicht mehr gegeben. Folglich wäre die unerwartete Hinrichtung am Freitag möglich, sowie die Erwartung auf den Donnerstag fällt.
Am besten fällt der Fehler bei vollständiger Schreibweise auf:
"Es ist Freitag und ich erwarte die Hinrichtung am Freitag und nicht am Donnerstag und nicht am Mittwoch und nicht am Dienstag und nicht am Montag." und "Es ist Donnerstag und ich erwarte die Hinrichtung am Donnerstag und nicht am Freitag und nicht am Mittwoch und nicht am Dienstag und nicht am Montag." usw...
Ein Wesen, das sich nahezu niemals irrt, zeigt Ihnen zwei Schachteln. In Schachtel 1 befinden sich 1000 Euro. Sie dürfen später entweder beide Schachteln zusammen oder die Schachtel 2 allein wählen. Den Inhalt dürfen Sie dann behalten. Wenn das Wesen vorhersagt, daß Sie nur Schachtel 2 wählen werden, dann legt es zusätzlich 1000000 Euro in die bisher leere Schachtel 2.
a) Nehmen wir an, das Wesen hätte vorausgesagt, daß Sie sich nur für Schachtel 2 entscheiden; dann hätten Sie 1000000 Euro sicher und es wäre dumm von Ihnen, auf die zusätzlichen 1000 Euro aus Schachtel 1 zu verzichten.
b) Nehmen wir an, das Wesen vorausgesagt, daß Sie sich für beide Schachteln entscheiden; dann hätten Sie 0 Euro, wenn Sie nur Schachtel 2 wählen, ansonsten aber 1000 Euro.
Offenbar ist es also ziemlich dumm, sich nur für Schachtel 2 zu entscheiden.
a) Nehmen wir an, das Wesen hätte richtig getippt; dann erhalten Sie 1000 Euro, wenn Sie beide Schachteln gewählt haben, bzw. 1000000 Euro bei der Wahl von Schachtel 2.
b) Nehmen wir an, das Wesen hätte sich geirrt; dann haben Sie 1001000 Euro, wenn Sie beide Schachteln gewählt haben, ansonsten 0 Euro.
Egal ob sich das Wesen nun irrt oder nicht, die Gewinnsumme bleibt gleich. Da wir aber wissen, daß sich das Wesen nur selten irrt, sollte es doch besser sein, sich für Fall a) zu entscheiden und demzufolge nur die Schachtel 2 zu wählen.
Offenbar versucht Lösungsansatz 1, jeden Irrtum des Wesens auszunützen unter der Verwendung der Tatsache, daß das Wesen seine Entscheidung bereits getroffen hat, während Lösungsansatz 2 ausnutzt, daß sich das Wesen selten irrt (bzw. das Wesen dazu zwingt, sich sehr häufig zu irren, wenn es Schachtel 2 leer läßt).
Für mich wirft das Paradoxon die Frage auf, was Zufall eigentlich bedeuten soll: Denn was passiert bei einer zufälligen Entscheidung zwischen beiden Alternativen? Mir erscheint es etwas zu einfach, zu postulieren, daß es ein Wesen gibt, welches sich nahezu nie irrt. Läßt sich ex ante vorhersagen, daß es sich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit irrt, oder wissen wir dies erst nachher?
Kann man von einer konkret existierenden Münze behaupten, daß der Münzwurf mit 50%iger Wahrscheinlichkeit Kopf ergibt? - Wenn wir eine konkrete Münze nur ein einziges Mal werfen und die Münze anschließend vernichten, welche Wahrscheinlichkeit hatte der Wurf dann?
Offenbar ist Wahrscheinlichkeit ein Hilfskonstrukt, welches wir anwenden, wenn wir bei unvollständiger Information eine Entscheidung treffen sollen.
Wenn sich das Wesen nie irren
würde, wäre die Entscheidung klar: Zur Maximierung des
Gewinns beschränkt man sich auf die Wahl von Schachtel 2. (Denn es
geht darum, den Gewinn unter der Nebenbedingung zu maximieren,
daß sich das Wesen nie irrt und nicht etwa darum, diese Nebenbedingung zu widerlegen! Wenn sich das Wesen nie irrt, bekommt man entweder 1000000 Euro oder 1000 Euro.)
Wenn das Wesen mit einer Wahrscheinlichkeit von 99% wahrsagt; auf
wie viele Runden des Schachtelspiels mit welchen Spielern welchen Typs
bezieht sich das? Handelt es sich um eine Wahrscheinlichkeit, die aus
empirischen Untersuchungen bisheriger Spielergebnisse resultiert? Oder
handelt es sich um eine ex post aufgestellte Wahrscheinlichkeit, quasi,
nachdem wir unsere Runden schon durchgespielt haben? Ich zumindest kann
mich ohne die Angabe weiterer Daten nicht für einen der beiden
Ansätze entscheiden.
Interessant wäre es auch, die Entscheidung von einem Münzwurf
abhängig zu machen. So man den Münzwurf als ausreichend zufällig ansieht,
ließe sich bei genügend häufiger Wiederholung auch ermitteln, welcher
Lösungsansatz (mit geringer Irrtumswahrscheinlichkeit) der richtige
ist. Für die Paradoxie ist jedoch anzunehmen, daß wir ausschließlich
mit den gegebenen Informationen vor einer einmaligen Situation stehen und uns rational entscheiden sollen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich bin der Überzeugung, daß ich mich allein deshalb nicht entscheiden kann, weil die vorgelegte Paradoxie den Wahrscheinlichkeitsbegriff undefiniert läßt. Zugleich ist keiner der vorhandenen Lösungsansätze validierbar, d.h. es fehlt jede Möglichkeit, die Korrektheit des gewählten Lösungsweges in einer wie auch immer gearteten Versuchsreihe zu widerlegen, falls dieser falsch sein sollte. (Ohne das besagte Wesen läßt sich der Versuch nicht durchführen, und da wir die Wirkungsweise des Wesens nicht kennen, können wir den Versuch nicht einmal simulieren.) Die Paradoxie besitzt demnach keinen Wirklichkeitsbezug.